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Zusammenfassung Der 24. Juni 2016 ist ein milder Sommertag. Die Sonne scheint, das tiefe Blau am Londoner Himmel wird allenfalls durchzogen von ein paar Schönwetterwolken, die Abendvorstellung des Dramas Henry V. von William Shakespeare im Open Air Theater am Regent’s Park ist ausverkauft. Auf den hinteren Rängen hat Mark Carney Platz genommen, der Gouverneur der britischen Zentralbank. Nach der Pause bleibt sein Stuhl leer. Der Bänker, der wie wenige andere Verantwortung trägt für die Stabilität des Pfund Sterling, die Entwicklung der britischen Volkswirtschaft und die Zukunft des Finanzplatzes London, gehört an jenem Tag zu den wichtigsten Protagonisten eines tragischen Bühnenstücks in zwei Akten, das sich mit den Epen Shakespeares vergleichen kann. Der erste Akt war an diesem Morgen um 4.40 Uhr zu Ende gegangen, als die BBC in ein paar knappen Sätzen das Ergebnis des Referendums über die Mitgliedschaft in der EU mitteilte: „Das britische Volk hat gesprochen. Und die Antwort ist: Wir sind draußen.“ Für Carney und die Experten des Finanzministeriums war das Schreckensszenario eingetreten, gegen das sie sich so lange gestemmt hatten. Ihre Prognosen sahen den Fall des britischen Pfunds ins Bodenlose vorher, eine Implosion des B ankenstandorts obendrein und den ökonomischen Kollaps, dem die Beamten in Whitehall mit einem Nothaushalt vorzubeugen versuchten. Die Londoner Tageszeitung Times verglich das Votum für den Ausstieg aus der EU, den sogenannten „Brexit“, mit einem Erdbeben. Eine Karikatur in der New York Times zeigte, wie eine Figur mit den Gesichtszügen des Komikers John Cleese, einer Ikone verschrobener Britishness, von einer Felsklippe springt. „England ist kollabiert – politisch, finanziell, konstitutionell und wirtschaftlich“, kommentierte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, als er von den Ereignissen in London hörte. Den Remainern, die für den Verbleib in der Europäischen Union gekämpft hatten, schien die Lage düster und hoffnungslos, die Entscheidung endgültig. Die Boulevardzeitung Daily Mail hingegen feierte das Ergebnis als Beleg dafür, dass „das leise Volk der Briten aufgestanden ist gegen die arrogante, realitätsfremde politische Klasse“ (Snoddy 2016). Unterdessen sammelte Marc Blakewill Rezepte für das „Brexit Kochbuch“, das der Verlag Summerdale in den kommenden Monaten augenzwinkernd mit dem Slogan bewarb: „British Food for British people.“ Die britische Küche, schrieben die Autoren darin, sei die Grundlage gewesen für das größte Reich, das die Welt je gesehen habe, „bis die Europäische Union uns dänisches Plundergebäck und Pizza aufgezwungen hat. Aber jetzt haben sich die Spieße in der Küche gedreht und wir können essen, wozu wir verflixt noch mal Lust haben. Schluss mit Croissant und Ciabatta. Lasst uns zur Abwechslung etwas wahrhaft Patriotisches kochen – mit dem Brexit Kochbuch,“ texteten die Autoren nicht ohne Selbstironie (Sewage 2017). Aber um den sprichwörtlichen Humor ihrer Landsleute war es schlecht bestellt. Das Verhältnis zwischen Remainern und Brexiteers – den Gegnern und Befürwortern des EU-Austritts – hatte sich längst in eine erbitterte Feindschaft ausgewachsen. Wer mit Nachbarn und Freunden sprach und die Nachrichten verfolgte, fand sich in einem geteilten Land, in dem der Zwist über die Rolle in Europa Freunde entzweite, Familien zerriss und Ehen bersten ließ. Die Koordinaten der politischen Diskussion und die Gewichte des Meinungsstreits waren 2016 für jeden sichtbar verrutscht. In den Jahren vor dem Referendum sahen sich Konservative mit ethnozentrischem Weltbild als Protestler am Rande der politischen Debatte, oft verächtlich belächelt und ohne Einfluss auf die wichtigen Entscheidungen in Westminster (McKenzie 2017). Über Nacht und zum ersten Mal überhaupt erhielten sie nun ein starkes Mandat, das sie nutzen wollten, um die politische Agenda zu diktieren. Ihre Gegner, die Remainer, verloren die Kontrolle über die wichtigste politische Entscheidung seit Jahrzehnten und bekamen den Frust und die Verbitterung zu spüren, die sich bei den neuen Siegern über so viele Jahre angesammelt hatten. Als abgehobene Elite wurden die Verteidiger der EU-Mitgliedschaft jetzt geschmäht, ihre angeblichen Privilegien angeprangert, ihr kosmopoliter Lebensstil verspottet und ihr Patriotismus in Frage gestellt. Saboteure des demokratischen Mehrheitswillens seien sie, gifteten populistische Stimmen nicht nur in den Boulevard-Zeitungen (Kavanagh 2016). Wer sich Zweifel an der Klugheit des Brexit auch jetzt noch nicht verkneifen und mit Warnungen Schaden für das Land minimieren wollte, wurde als „Bemoaner“ verlacht, einem verächtlichen Kompositum, bei dem der Remainer mit „bemoan“ (jammern) verschmilzt. Die so Drangsalierten verteidigten sich mit dem Vorwurf, die Gewinner seien einfältig und unfähig zu verstehen, wofür sie am 23. Juni gestimmt hätten. Wie lasse sich sonst erklären, ätzten sie, dass ausgerechnet am Tag nach dem Referendum die bei Google am zweithäufigsten aufgerufene Frage lautete: „Was eigentlich ist die EU?“, gefolgt von „Was passiert, wenn wir die EU verlassen?“ (Cooney 2016). Die Mehrheit der Wähler sei ganz offensichtlich einer Clique von Extremisten auf den Leim gegangen, die darauf aus seien, der Volkswirtschaft zu schaden und die demokratischen Institutionen zu untergraben (Ditum 2016). Erstmals in der Geschichte teilte sich das Land in zwei Lager, deren Konflikt nicht unterschiedlicher ökonomischer Umstände, der Zugehörigkeit zu sozialer Klasse oder dem Streit über die Rolle des Staates als Anbieter öffentlicher Dienstleistungen geschuldet war. Das Erbe der Referendums-Kampagne war ein völlig neuer Diskurs, geprägt von dem Bekenntnis über die Zugehörigkeit zu einer politischen Identität. Das Votum am 23. Juni war nicht der Schlusspunkt eines Konfliktes, sondern der Auftakt einer Periode, in der Politiker und Wähler sich zu entscheiden hatten zwischen zwei gesellschaftlichen Gruppen, die vom Streit um das Verhältnis des Landes zur EU geprägt waren. Die beiden kontrastierenden Identitäten waren unvereinbar, ihre jeweiligen Anhänger unversöhnlich und kompromisslos. Hinter ihrer Konfrontation trat in den kommenden Jahren jedes andere Thema zurück.
Suggested Citation
Christian Schnee, 2022.
"Sieger und Besiegte – Brexit und kein Ende,"
Springer Books, in: Das Vereinigte Königreich, chapter 4, pages 77-113,
Springer.
Handle:
RePEc:spr:sprchp:978-3-658-37388-7_4
DOI: 10.1007/978-3-658-37388-7_4
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