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Nigel Farage – Volkstribun und Paradox

In: Das Vereinigte Königreich

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  • Christian Schnee

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Zusammenfassung Ein Montagmorgen Anfang Mai 2020. Die graue Nordsee liegt still, darüber ein bleierner Himmel. Auf den Klippen läuft ein Mann hin und her, macht Fotos, gestikuliert vor einer Kamera und zeigt immer wieder hinunter zum Hafen von Dover, wo Grenzschützer und Sanitäter sich um rund 20 Flüchtlinge kümmern. Nigel Farage, Mitte 50, grau melierte Haare, grüne Barbour-Jacke und braune Cordhose, ist als Reporter unterwegs, produziert neues Material für seine Social-Media-Kanäle. Der Politiker, der als Vorsitzender der UK-Unabhängigkeitspartei, kurz UKIP, der Regierung seit Jahren das Fürchten lehrt, ist außer sich, wieder einmal. Aufgeregt ruft er ins Mikrofon. Er habe jetzt den Beweis für die „Flüchtlingsinvasion“ gefunden, der zudem Unfähigkeit und Unwilligkeit des Innenministeriums belege, den Bootsverkehr von Migranten über den Ärmelkanal zu stoppen und das Geschäft der Menschenschmuggler zu beenden (Farage 2020). Der erhobene Zeigefinger und die bebende Empörung hält Farage heute für seinen journalistischen Auftrag, zu dem es offenbar gehört, als Zeitungskolumnist und Moderator einer Radiosendung seine Anhänger in Rage zu bringen. So erklärt er auch, warum er vor ein paar Tagen mit seiner Kamera bei Pett Level in den Dünen im östlichen Teil der Grafschaft Sussex auf Pirsch gegangen war nach Bildern von anlandenden Migranten. Die Rechtfertigung war nötig, als zwei Polizisten an seiner Haustür vorstellig wurden, um daran zu erinnern, dass nach den Covid-19-Regeln „nicht essentielle“ Besuche und Reisen, und sei es nur eine Fahrt ans Meer, zu unterbleiben hatten (Chantler-Hicks 2020). Nicht akzeptabel sei dieser Versuch, ihn bei seiner journalistischen Arbeit zu stören, zürnt Farage und verspricht seinem Publikum auf YouTube, er bleibe dran an der Geschichte. Keine leere Ankündigung von einem, der ein ganzes politisches Leben lang nicht ablässt von seinen Themen: Dem Ausverkauf britischer Interessen, der Gängelung durch Brüsseler Bürokraten, zu laxe Grenzkontrolle und nun eben die Zuwanderung von Menschen, die im Vereinigen Königreich nichts zu suchen hätten. Fremd im eigenen Land fühle er sich, sagt Farage im Abendfernsehen, besonders, wenn er bei der Bahnfahrt oder im öffentlichen Bus in den Gesprächen um ihn herum keine englischen Stimmen mehr höre (Sparrow 2014; Demianyk 2017). Der Ausverkauf der eigenen Heimat ist das Mantra des Manns, der als Ein-Mann-Show ohne Mandat im britischen Parlament und ohne Stimme in der Regierung mehr als irgendein anderer dazu beigetragen hat, sein Land aus der Europäischen Union zu führen. „Mr Brexit“ nennt die BBC den Politiker, der ein ausgeprägtes Gespür dafür hat, wie mit Ängsten Mehrheiten zu gewinnen sind (D’Arcy 2019). Für Jahre kombiniert er scheinbar ohne Skrupel seine persönliche Ablehnung der Europäischen Union mit den alten, tief sitzenden Ressentiments gegenüber Fremden. „Breaking Point“ – Grenze der Belastbarkeit – betitelt er das Plakat, mit dem er 2016 die heiße Phase der Kampagne startet, an deren Ende am 23. Juni das Votum über den Austritt aus der EU stehen würde. Eine Karawane von Menschen mit schwarzen Haaren und dunkler Hautfarbe ist das Plakatmotiv, das jemand in Slowenien in den Monaten der Flüchtlingszüge über den Balkan 2015 aufgenommen hatte. Die journalistische und politische Resonanz schwankt zwischen Empörung und Entsetzen. Schatzkanzler George Osborne sieht sich an Kampagnenmaterial der 1930er-Jahre erinnert, Justizminister Michael Gove erzählt, Motiv und Überschrift hätten ihn „erzittern“ lassen, Unison, die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, stellt Strafanzeige wegen Volksverhetzung und der Vergleich mit Enoch Powell machte die Runde (Stewart und Mason 2016; Wright 2016a). Das liberale Establishment in London bebt vor Wut. Und Farage? Der lacht, reckt den Daumen nach oben und gibt sich keine Mühe, seine Selbstzufriedenheit zu verbergen. Er braucht jede Aufmerksamkeit, um Anhänger zu motivieren für seinen Kampf gegen die von ihm abgrundtief verachtete Europäische Union. Deshalb lässt er den Text auf seinem Plakat, direkt unterhalb der Überschrift, um die Behauptung zu ergänzen, dass die EU „uns alle im Stich lässt.“ Nur Monate, nachdem Bilder von riesigen Flüchtlingstrecks in Europa für hitzige Diskussionen gesorgt hatten, überlässt es Farage seinem Publikum, aus diesen Zeilen die passenden Schlüsse zu ziehen. Bis heute ist er sich sicher, dass es diese Botschaft war, mit der er für Großbritanniens Austritt aus der EU – kurz Brexit – eine Mehrheit gewann (The Newsroom 2018). Das klingt plausibel, schließlich ist die EU in den Jahren zuvor längst zum Synonym für hohe Zuwanderung geworden und im Eifer der Auseinandersetzung scheren sich Farages Unterstützer wenig um die Unterscheidung zwischen Binnenzuwanderung aus Rumänien oder Polen auf der einen Seite und den Flüchtlingen aus dem Mittleren Osten und Afrika, die sich auf den Weg machen, weil sie sich Sicherheit oder ein besseres Leben in Europa erhoffen. So oder so, Farages Argument, dass sichere Grenzen für Mitglieder der EU nicht zu haben sind, findet Resonanz bei vielen Wählern, die jetzt einen kennen, der sich nicht fürchtet, den Konsens der politischen Debatte aufzubrechen und ihre Anliegen gegenüber den Eliten in London und Brüssel zu vertreten (BBC 2016a).

Suggested Citation

  • Christian Schnee, 2022. "Nigel Farage – Volkstribun und Paradox," Springer Books, in: Das Vereinigte Königreich, chapter 3, pages 49-75, Springer.
  • Handle: RePEc:spr:sprchp:978-3-658-37388-7_3
    DOI: 10.1007/978-3-658-37388-7_3
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