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Die arme Verwandtschaft – Wales und Nordirland

In: Das Vereinigte Königreich

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  • Christian Schnee

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Zusammenfassung Ende Mai 2020: Der Strand von Gwynedd bei der Ortschaft Barmouth im Nordwesten von Wales war menschenleer an jenem Wochenende, der Himmel wolkenlos und die Temperatur mild. Besser hätte sie es nicht treffen können, dachte sich die Touristin, die mit ihrer Familie aus den West Midlands angereist war, eine Tour von 160 Kilometern mit dem Auto. Dann kamen zwei Polizisten über den Strandweg heran und teilten unmissverständlich mit, dass dieser wie alle anderen Strände in Wales geschlossen sei. Der Covid-19-Vorschriften wegen seien Besuche der Seebäder nicht gestattet. Irritiert entgegnete die Touristin den Beamten: „Boris sagt, ich könne ans Meer fahren!“ Das mag ja sein, antworteten Ordnungshüter, und klärten das Missverständnis auf: Premierminister Boris Johnson bestimme die Regeln zur Pandemiebekämpfung nur in England – nicht aber in Schottland, Nordirland und auch nicht in Wales, wo der Erste Minister Mark Drakeford die Verhaltensregeln im Kampf gegen die Covid-Pandemie festlege. Diesen walisischen Vorschriften zufolge war nun mal im Mai 2020 die Fahrt ins Grüne oder ans Meer nicht gestattet. Journalisten erzählte die vertriebene Touristin später, sie habe nicht gewusst, dass Wales anders als Cornwall oder das Lake District nicht zu England gehöre (Ng 2020). Daniel Kawczynski, der konservative Abgeordnete, der den Wahlkreis Shrewsbury und Atcham in Westminster vertritt, findet, die Menschen seien dieser Art von regionaler Selbstbestimmung in Wales überdrüssig, die gerade in den Zeiten der Pandemie für Durcheinander und Verwirrung gesorgt habe, wenn die Anordnungen des Ersten Ministers in Cardiff abwichen von den Entscheidungen des Premierministers in London (Jones et al. 2022). Diese Sicht der Dinge entspricht der traditionellen englischen Perspektive, wonach Wales nie als vollwertige Nation galt. In seinen Anfängen im 13. Jahrhundert war das Fürstentum kaum mehr als ein Flickenteppich aus Marken, deren Herren mit den Verwaltern der Kronlande um Einfluss konkurrierten. Seine geografische Form erhielt die Herrschaft erst zwischen 1536 und 1542 in Verträgen, mit denen König Henry VIII. aus der Familie Tudor den eigenständigen Rechtscodex des kleinen Nachbarn durch den englischen ersetzen ließ und versuchte, die walisische Sprache zu verbieten. Während die Engländer mit Schottland 1707 den Unionsvertrag abschlossen, aus dem Großbritannien hervorging, und ein knappes Jahrhundert später per Staatsvertrag mit Irland das Vereinigte Königreich entstehen ließen, gab sich mit dem Fürstentum Wales in London niemand vergleichbare Mühe. Im Gegenteil, die Erinnerungen an Unterdrückung und Erniedrigung durch die Engländer sind über die Jahrhunderte bis heute sichtbar geblieben. Die imposanten Burgen von Beaumaris, Caernarfon, Conwy und Harlech, die Englands König Edward I. nach einem erfolgreichen Feldzug zur dauerhaften Sicherung seiner Herrschaft erbauen ließ, durfte kein Waliser betreten (Morris 2009). Mit der politischen Eigenständigkeit des Landes war es schon im Mittelalter vorüber. Was blieb, war die eigene Kultur, die sich vor allem in der Sprache manifestierte. Französisch, später Englisch, blieben derweil die Idiome des Feindes. Deshalb soll Edward I. als scheinbare Geste der Versöhnung seinen neuen Untertanen zugesagt haben, als Herren über ihr geschlagenes und unterworfenes Fürstentum einen Prinzen zu ernennen, der nicht die Sprache des Siegers sprach. Er hielt Wort und ernannte mit bitterem Spott seinen neugeborenen Sohn, den späteren König Edward II., zum Prinzen von Wales (Spinks 2017).

Suggested Citation

  • Christian Schnee, 2022. "Die arme Verwandtschaft – Wales und Nordirland," Springer Books, in: Das Vereinigte Königreich, chapter 26, pages 497-513, Springer.
  • Handle: RePEc:spr:sprchp:978-3-658-37388-7_26
    DOI: 10.1007/978-3-658-37388-7_26
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