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Zusammenfassung Spitze Türme, mit Kopfstein gepflasterte Gassen, mit steinernen Gargoylen geschmückte Giebel, gepflegter Rasen, schwere Holztore, die Passanten den Blick verwehren auf Gärten und Höfe. Trauerweiden, die einen Fluss säumen, der sich durch die Altstadt schlängelt. Auf dem Wasser staken Jugendliche auf schmalen, schwankenden Holzbooten, Radfahrer schlängeln sich an Touristen vorbei, kreuzen zwischen dem Exeter College und dem neoklassizistischen Rundbau der Radcliffe Camera, in dem die Lesesäle der Bibliothek untergebracht sind. Auf den Wiesen hinter dem Christ Church College grasen Kühe. Das Idyll ist nicht stilisiert. Die Szenen aus der Stadt an den Flüssen Cherwell und Themse sind so real wie der Spitzenplatz, den die hier in Oxford vor mehr als 800 Jahren gegründete Universität jedes Jahr einnimmt in der Rangliste des Fachmagazins Times Higher, wenn die Redaktion Forschungsleistung, Studentenzufriedenheit und internationales Prestige vergleicht, um zu verkünden, ob Harvard, Stanford das MIT aus den USA oder die englische Konkurrenz in Oxford und Cambridge, eine Hochschulgründung des 13. Jahrhunderts, ganz vorne liegt (Willems 2021). Es ist erstaunlich, dass der Wettbewerb darum, in welchem Land der Welt die angesehenste Hochschule zu Hause ist, seit Jahren zwischen den USA und Großbritannien ausgetragen und entschieden wird. Der Rest der Welt sieht zu. Aber der Mythos der beiden ältesten Universitäten Englands beruht nicht nur auf akademischer Leistung, sondern einer sich selbst perpetuierenden Anziehungskraft, die in der Vergangenheit nicht immer auf fachlicher Exzellenz beruhte. Großbritanniens Premierminister Boris Johnson war Student in Oxford, seine Vorgänger Theresa May und davor David Cameron ebenfalls. In den vergangenen vier Jahrzehnten residierten in 10 Downing Street nur zwei Regierungschefs, die nicht in Oxford studiert hatten. Der eine, John Major, Sohn eines Varieté-Darstellers, absolvierte eine Banklehre. Der andere, Gordon Brown, blieb lieber in seiner schottischen Heimat. Sollten die Tories heute Wahlen verlieren, wäre mit Sir Keir Starmer, dem Vorsitzenden der Labour-Partei, der in St. Edmund Hall Rechtswissenschaften studiert hat, erneut ein Absolvent der Universität Oxford an der Spitze der Regierung. Suchten die Tories noch vor dem nächsten landesweiten Urnengang einen Ersatz für ihren Partei- und Regierungschef Johnson, wird als Favorit für die Nachfolge sein Schatzkanzler Rishi Sunak genannt, der seine Studienzeit am Lincoln College in Oxford verbrachte. Wenn Personalabteilungen und Gremien politischer Parteien bei der Vergabe von Führungsaufgaben immer wieder Kandidaten aus Oxford – und gelegentlich Cambridge – den Vorzug geben vor Absolventen einer der anderen 130 britischen Hochschulen, dann hat das nicht zuletzt mit dem Wunsch zu tun, die eigene Organisation zu schmücken mit einem Hauch des Mythos und einer Portion jener Distinktion, die mit Oxford und Cambridge – kurz Oxbridge genannt – assoziiert werden. Wie die Rektoren der Universität und Leitungen der Colleges die Aura und ihre Wirkung seit langem zu mehren versuchten, zeigt die Geschichte von Sir Herbert Warren, Professor für Poesie und Präsident des Magdalen Colleges, der 1912 beide Augen zudrückte und fachliche Vorbehalte überwand, um die Immatrikulation eines Studenten zu ermöglichen, von dem nicht zu erwarten war, dass er ein helles Licht am akademischen Himmel werden würde (Parker 1988). Dass der Prinz von Wales einmal als Edward VIII. König Englands und Kaiser Indiens werden würde, wog schwerer in der Abwägung Warrens, einem notorischen Snob, den der Ehrgeiz umtrieb, die Prominenz des Magdalen Colleges zu steigern. Nachdem er den künftigen Kaiser Indiens nun in seinen Seminaren sitzen hatte, schickte Warren einen Mitarbeiter nach Peking in die Verbotene Stadt, um für das Magdalen College bei Pu Yi, dem Kaiser Chinas zu werben, der allerdings gerade am eigenen Hof unter Hausarrest stand und deshalb für eine Hochschulausbildung im Ausland nicht zu haben war. In Japan hatte Warrens Gesandter mehr Erfolg mit Prinz Chichibu. Der zweite Sohn des Tenno wurde 1925 zum Grundstudium in Oxford begrüßt und am Magdalen College hofften viele, auch sein Bruder, Kronprinz Hirohito, würde sich bald einschreiben. Als Taisho, der Vater der beiden, im folgenden Jahr verstarb und Hirohito, der ihm auf dem Chrysanthementhron folgte, seinen Bruder Chichibu aus England zurückbeorderte, konnte Warren immerhin behaupten, Oxford sei dank seiner Bemühungen für einige Monate das akademische Zuhause eines Gottessohnes gewesen, denn der Tenno und dessen Nachwuchs galten in Japan als Kinder der Sonnenkönigin Amaterasu (Paxman 2007). Was sich liest wie eine Anekdote von der weniger ernsthaften Sorte, erinnert an ein Phänomen, das die ungebrochene Anziehungskraft von Oxford und Cambridge erklären hilft. Laut einer Zählung aus dem Jahr 2018 haben 57 amtierende Staats- und Regierungschefs in Großbritannien studiert, die meisten davon an den zwei Traditionshochschulen. Besonders Oxford ist schon lange Treffpunkt für ehrgeizige junge Männer und Frauen aus der ganzen Welt, die das Ziel verfolgen, in der Politik zu reüssieren. Hier konnte man Bill Clinton zum Kommilitonen haben und auch acht Mitglieder aus Barack Obamas Team im Weißen Haus waren in ihrer Jugend eingeschrieben. Die indischen Regierungschefs Indira Gandhi und in jüngerer Vergangenheit Premierminister Manmohan Singh gehören der Liste ebenso an wie Naruhito, seit 2019 japanischer Tenno, der die Familientradition fortsetzte und in den 1980er-Jahren am Merton College studierte. In den Tagen, als Theresa May St. Hugh’s College besuchte, zählte die spätere pakistanische Präsidentin Benazir Bhutto zu ihren Kommilitoninnen. Zu den Alumni Oxfords gehört auch Jordaniens König Abdullah II., Ungarns Ministerpräsident Victor Orban sowie Regierungs- und Staatschefs aus Barbados, Sri Lanka, Ghana, Malta, Kanada, Trinidad und Tobago, die burmesische Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi und ungezählte weitere, die später als Minister, Generäle oder Bischöfe zu Ansehen und Einfluss kommen sollten. Oxford ist ein Tummelplatz für junge Menschen mit ehrgeizigen Zielen, zu denen einstmals auch der vormalige Bundestagspräsident Norbert Lammert und noch vor dem Zweiten Weltkrieg der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker zählten, die hier Vorlesungen in Geschichte besuchten. Oxford war traditionell die erste Wahl der meinungsstarken Sozial- und Geisteswissenschaftler, Cambridge hingegen war beliebter bei Mathematikern und Naturwissenschaftlern, denen Fakten wichtiger sind als persönliche Überzeugungen. An dieser traditionellen Unterscheidung mag es gelegen haben, dass während der Kampagne um Großbritanniens Zukunft in der EU 2016 keiner der prominenten Brexit-Befürworter ein Cambridge-Alumnus war. Auf der anderen Seite hatten Boris Johnson (Balliol College), sein Verbündeter Michael Gove (Lady Margaret College), Jacob Rees-Mogg (Trinity College), der die europakritischen Tories im Unterhaus anführte, und der Leiter der Brexit-Kampagne Dominic Cummings (Exeter College) den Umgang mit Meinung und Wahrheit in Oxford gelernt (Kuper 2019).
Suggested Citation
Christian Schnee, 2022.
"Oxbridge – Lernen mit Kaisern und Gottessöhnen,"
Springer Books, in: Das Vereinigte Königreich, chapter 20, pages 389-401,
Springer.
Handle:
RePEc:spr:sprchp:978-3-658-37388-7_20
DOI: 10.1007/978-3-658-37388-7_20
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