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Abstract
Zusammenfassung Es sieht nicht gut aus im Sommer 2020. Eine Fabrik in Liverpool produziert Impfstoff gegen Grippe. Eine andere in Schottland spezialisierte sich auf die Japanische Gehirnentzündung, ein Nischenprodukt. Das Land hängt von Importen ab. Es ist eine der unbequemen Wahrheiten inmitten der Covid-19-Pandemie, dass es an Expertise und Ausstattung fehlt zur Produktion des Vakzins, mit dem das Virus überwunden werden soll (Cookson 2021). Ein Arbeitsstab wird einberufen, um das Versäumnis vieler Jahre in wenigen Monaten aufzuholen. Die Leitung übernimmt Kate Bingham, die geschäftsführende Gesellschafterin einer Wagniskapitalfirma, die in wenigen Wochen Forscher und Unternehmer an einen Tisch bringt, Verträge abschließt mit den Unternehmen Pfizer-BioNTech, Moderna, Johnson und Johnson, Sanofi GSK, Oxford AstraZeneca, Valneva, Novavax und CureVac über die Herstellung und Lieferung von Impfstoffen und dafür den sofortigen Aufbau zweier neuer Produktionsstätten organisiert. Bingham sichert 267 Millionen Dosen für knapp 12 Milliarden Pfund (Mancini 2020). Vier der Unternehmen, darunter auch Oxford AstraZeneca, erhalten staatliche Subventionen für die Zusage, in Großbritannien zu produzieren. Dafür errichten die Firmen sechs Bioreaktoren im Land, Maschinen zur Impfstoffproduktion, von denen es weltweit nur wenige Dutzend gibt. Die Sorge ist groß, dass die europäischen Nachbarn, Länder in Asien mit pharmazeutischen Produktionsstandorten sowie vor allem die USA Donald Trumps den Export stoppen und Vakzine beschlagnahmen könnten, um zunächst die eigene Bevölkerung zu versorgen (Forsyth 2021). Später würden Epidemiologen warnen, dass der Kampf gegen die Pandemie Schaden nehmen könne durch aufkeimenden Impfstoffnationalismus. Ein Begriff, der sich im folgenden Winter auch in kommunalen Gazetten wiederfand, vor allem im Norden Englands und mit gewandelter Bedeutung. Hier berichteten Ärzte aus Gemeinden, in denen die Bevölkerung mit großer Mehrheit für den Brexit gestimmt hatte, dass Patienten, vor allem ältere Männer, den Anfang 2021 vorrangig angebotenen Impfstoff des deutschen Biotechnologieunternehmens BioNTech ablehnten und lieber warteten, „bis der englische Impfstoff da ist“ (Gregory et al. 2021). Das war ein nationalistischer Reflex, den nur Tage zuvor Bildungsminister Gavin Williamson angefeuert in einer Antwort auf die Frage, wieso Großbritannien früher als andere Staaten einen Impfstoff zugelassen habe: „Weil wir bessere Wissenschaftler haben als Frankreich, Belgien und die USA. Wir sind ein besseres Land als jedes Einzelne von denen!“ (Halliday 2020a). Was sich so kurios liest, ist Ausdruck der Haltung, die sich unter Politikern der Konservativen über Jahre hinweg formte und während des Streits um den Austritt aus der EU ihre deutlichste Ausprägung fand. Sie speist sich aus einer wirren Melange aus Überlegenheit und Trotz, die sich bei Wirtschaftsminister Alok Sharma in jenen Tagen etwa so las: „In der Zukunft wird man sich erinnern an diesen Moment, als Großbritannien die Menschheit anführte im Kampf gegen die Krankheit.“ Andreas Michaelis, Deutschlands Botschafter in London, fragte sich seinerzeit mit Blick auf die rhetorische Überhöhung und nationale Verzückung in Whitehall, wieso es „so schwierig ist, diesen wichtigen Schritt vorwärts als großen internationalen Einsatz und Erfolg zu werten?“ (Neville et al. 2020). Die Antwort auf Michaelis Frage lautet „Exzeptionalismus“, eine Spielart des Nationalismus, der sich die Tories immer wieder bedienen, um patriotische Wähler hinter sich zu versammeln, politische Gegner in die Enge zu treiben und Wahlen zu gewinnen. Der zur Schau getragene Glaube an die eigene Überlegenheit mag ein wirksames Instrument sein in der Wahlkampfarena, im Umgang mit einer Pandemie aber ist er kein probates Mittel. Als ebenso wenig hilfreich erwiesen sich der unbändige Optimismus, die waghalsigen Versprechungen, die Geringschätzung wissenschaftlichen Rates und ein zerrüttetes Verhältnis mit der Realität – alles Eigenschaften, die Premierminister Boris Johnson schon vor dem ersten Fall von Covid-19 auszeichneten (DeGroot 2021). Wenn nun die Veteranen des Kampfes für den Brexit die zweifelsohne erfolgreiche Entwicklung und Verteilung des Impfstoffes umdeuten zu einem Symbol nationaler Unbesiegbarkeit, dann ist das nicht nur ein weiteres Beispiel rechter politischer Unkultur. Es ist auch der Versuch, die kollektive Erinnerung zu bestimmen und eine Geschichte umzudeuten, in der sich Niederlagen, Pleiten, Fehler und Peinlichkeiten aneinanderreihen. Es ist die Geschichte über den Umgang der britischen Regierung mit der Covid-19-Pandemie. Wenn der Psychologe und Verhaltensökonom Daniel Kahneman recht hat mit seiner Beobachtung, wonach die Menschen sich dereinst an das Gute erinnern und das Schlechte verdrängen, um sich traumatische Empfindungen zu ersparen, könnten viele Wähler bis zum nächsten regulären Urnengang 2024 das Versagen der Behörden, die Inkompetenz der Entscheider und die Überforderung ihres Premierministers im Kampf gegen die Pandemie aus ihrer persönlichen Erinnerung verbannt haben.
Suggested Citation
Christian Schnee, 2022.
"Covid-19 – Zwischen Shakespeare und rauchenden Ruinen,"
Springer Books, in: Das Vereinigte Königreich, chapter 14, pages 293-308,
Springer.
Handle:
RePEc:spr:sprchp:978-3-658-37388-7_14
DOI: 10.1007/978-3-658-37388-7_14
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